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  • Schreiblabor

    Schreiben im Techniktagebuch

    ein Bücherregal in der Bibliothek
    © Universität Bielefeld

Einladung zum Schreiben ins Techniktagebuch

Aus Anlass seines 25-jährigen Jubiläums im Jahr 2018 hat das Team des Bielefelder Schreiblabors Kolleginnen und Kollegen, Freunde, Freundinnen und alle, die sich angesprochen fühlen, zum Schreiben eingeladen: Das Thema ist "Schreiben und Technik" bzw. die kleinen und größeren Erfahrungen, die Ihr mit kleinen und größeren technischen Neuerungen macht, die Euer Schreiben beeinflussen. 

Wir haben diese Jubiläumsaktion auf Dauer gestellt, denn der Blog „Techniktagebuch“ ist schon jetzt eine unschätzbar wertvolle Quelle für alle, die sich für die Geschichte von Technologie interessieren, die unseren Alltag verändern - und in den Momenten der Neuheit auch irritieren. Wer mag, lasse sich anregen! Wir freuen uns auf Eure Beiträge, die wir, wenn Ihr es uns wissen lasst, auch hier auf unserer Seite veröffentlichen!

Die Sammelstelle für Eure Texte: Das Techniktagebuch

Das Techniktagebuch ist ein von Kathrin Passig initiierter Blog. Motto „Ja, jetzt ist das langweilig. Aber in zwanzig Jahren!“ Informationen zum Techniktagebuch findet Ihr hier. Verseht Eure Beiträge bitte mit dem Hashtag: „25 Jahre Schreiblabor“. Dass es zu einem von Euch gewählten Thema schon einen oder mehrere Techniktagebuchbeiträge gibt, ist kein Grund, nicht noch mal die eigene Geschichte aufzuschreiben.

Hier geht's direkt zum Schreiben eines Blogbeitrags. Wenn Ihr nicht direkt ins Techniktagebuch schreiben möchtet, schickt euren Text als Mail an uns: schreiblabor@uni-bielefeld.de.

Bei Fragen und (technischen) Schwierigkeiten, schreibt uns: schreiblabor@uni-bielefeld.de.

Wir freuen uns, von Euch zu lesen!
Das Team des Schreiblabors der Universität Bielefeld

#25 Jahre Schreiblabor - die Beiträge

Als Erinnerung an unsere Arbeit an ihren Schreibschwierigkeiten sandte mir eine ehemalige Studentin einmal einen antiken Federhalter mit goldener Feder und schlankem Elfenbeingriff, glatt vom vielen Gebrauch. Es war ein schönes, zartes Instrument, und als ich mir die elegante Schrift vorstellte, die es einmal hervorgebracht hatte, besorgte ich mir eine Flasche Tinte und versuchte damit zu schreiben. Ich produzierte ein hässliches Durcheinander aus Kratzern und Flecken, verlor meinen Gedankengang völlig, legte den Stift in meine Schreibtischschublade und nahm mit Erleichterung das Schreiben an meinem Desktop-Computer wieder auf. Die aktuelle, vertraut gewordene Schreibtechnologie wirkte unendlich schneller und einfacher, flexibler und produktiver.

Mein Scheitern war aber nicht die Schuld des Federhalters. Charles Dickens schrieb schnell und fließend mit der Schreibfeder. Und wenn ich ihn wieder zum Leben erwecken könnte, ihm meinen Laptop leihen und ihm sagen könnte, er solle seine Manuskripte als Microsoft-Word-Dokumente erstellen und einreichen, wäre er ebenso verwirrt. Die erste – aber nicht hinreichende – Voraussetzung für das erfolgreiche Schreiben mit einer beliebigen Technologie besteht darin, dass man lernen muss, sie produktiv zu nutzen.

Junge Autoren würden sich heute fast genauso eingeschränkt fühlen, wenn sie das Gerät benutzen müssten, mit dem ich in den 70er Jahren meine Dissertation geschrieben habe: eine klapprige mechanische Schreibmaschine, oft in meinem im Wald geparkten VW-Bus inmitten von unzähligen Büchern und Artikeln. Diese Art des Schreibens erscheint heute sogar mir primitiv und unbeholfen, aber damals kam es mir notwendig vor, dort mit meinen eigenen Ressourcen allein zu sein, abgeschieden vom Rest der Welt. Gegenwärtige Verfasser von Dissertationen, die daran gewöhnt sind, Text mit wenigen Tastendrücken zu verschieben und zu überarbeiten, wären schon vom Gerät selbst frustriert – all die klemmenden Tasten, Tippfehler und verpfuschten Seiten. Insgesamt würden sie einen enormen Verlust an Flexibilität, Vernetzung und Zugang zu Informationen verspüren. Wenn sie mit ihren Laptops in Internet-Cafés sitzen, sind sie mit ganzen Bibliotheken, riesigen Datenbanken und globalen Wissenschaftsnetzwerken ihres Fachs verbunden. Sie können Querverweise zwischen mehreren Dokumente erstellen und mit Softwaresystemen statistische Analysen, theoretische Modelle der Reaktionen in explodierenden Sternen oder mehrfarbige dreidimensionale Darstellungen komplexer Moleküle gestalten. Die elektronischen Dokumente, die sie mir zeigen, oft auf Flash-Laufwerken, die an meinen Computer angeschlossen werden, enthalten viele Bilder, aufwändige Grafiken oder Partituren, die sie aus anderen Dokumenten importiert haben.

Das sind revolutionäre Änderungen in der Art, wie das Schreiben betrieben, konsumiert und gelehrt wird, und für mich jedenfalls sind sie wunderbar. Ich vermisse weder meine alte Schreibmaschine noch die Stapel aus Studentenarbeiten und Dissertationsentwürfen, die ich handschriftlich überarbeitet habe. Ich arbeite gerne mit Autoren vor dem Bildschirm, wir teilen uns eine Tastatur, spielen mit Sätzen herum oder vergleichen Entwürfe. In dieser Hinsicht wirkt das Schreiben, das Überarbeiten und das Lehren des Schreibens viel einfacher als früher.

Aber Federhalter, Schreibmaschinen und neue Informationstechnologien sind alle auf die gleiche Weise beschränkt: Sie können den Schreibenden nicht sagen, was sie ausdrücken sollen. Deshalb bleiben die grundlegendsten rhetorischen Herausforderungen, vor denen Schriftsteller stehen, unverändert. Unabhängig von ihren Werkzeugen und Systemen müssen Schreibende im gegenwärtigen Moment, in dem alles Schreiben stattfindet, Sprache und Gedanken eins werden lassen, um eine überzeugende Geschichte an imaginierte Leser zu vermitteln, die nicht anwesend sind. Wenn es sich um Studierende oder Wissenschaftler handelt, muss es bei dieser Geschichte um eine wichtige Frage gehen, auf die sie mit plausiblen Antworten oder einem interessanten, begründeten Argument mit überzeugenden Beweisen eingehen können. Zu diesem Zweck müssen sie eine aktuelle Schreibtechnologie halbwegs professionell einsetzen, aber in diesem entscheidenden Moment, in dem das Schreiben stattfindet (oder auch nicht), wird diese Schreibtechnologie ihnen keine Stimme liefern, keine erfundene Version ihrer selbst, durch die sie mit imaginierten Lesern – ob handschriftlich oder mit einer Tastatur – über Zeit und Raum in Verbindung treten können.

Deshalb haben technologische Entwicklungen das wissenschaftliche Schreiben im Grunde nicht einfacher gemacht. In den Jahrzehnten, seitdem ich die getippte Kopie meiner Dissertation eingereicht hatte, haben sich die durchschnittlichen Promotionszeiten verlängert, insbesondere in Bereichen, in denen traditionelle Dissertationsmonografien gefordert werden. Die Art des Schreibens hat sich ebenso verändert wie die akademischen Arbeitsmärkte, die Maßstäbe für Signifikanz und die möglichen Ablenkungen von der anstehenden Aufgabe. Die zentralen Probleme, vor denen junge Wissenschaftler bei der Bewältigung dieser Aufgabe stehen, sind im Wesentlichen die gleichen geblieben.


(Keith Hjortshoj, aus dem Englischen übersetzt von Google Translate und DeepL mit Nachbesserungen durch Kathrin Passig)

Wie viele Mitglieder der Europa-Universität Viadrina pendele auch ich fast täglich im Regionalexpress zu meinem Arbeitsplatz im Schreibzentrum. Besondere Attraktion der Strecke: ein ausgedehntes, brandenburgtypisches Funkloch zwischen Erkner und Frankfurt (Oder)-Rosengarten. Neulich hörte ich, wie sich zwei Schülerinnen unterhielten: „Bald soll es WLAN im Zug geben. Ich freu mich schon.“ Die andere: „Ich freu mich nicht, das wird doch alles total lahm sein.“

Ich denke: Ich freu mich auch nicht. Ist doch immer schön, wenn da wieder jemand versucht, durch viel zu laute, immer irgendwie wichtigtuerische Gespräche am Handy meine heilige Zug-Schreibzeit zu stören und ich genau weiß, was kurz hinter Erkner passieren wird. Erst ein irritiertes „Hallo?“ Dann ein verstörtes: „Haaaallo?“ Dann noch ein bisschen wildes Rumgetippe und ein gemurmeltes oder wahlweise auch lautes „Scheiße!“. Und dann ist Ruhe. Herrliche Ruhe zum ungestörten Schreiben und Lesen in einem Zug.


(Katrin Girgensohn)

As a memento of our work on her writing difficulties, a former student once sent me an antique dip pen, with a gold nib and slender ivory handle worn smooth from lots of use. It was a beautiful, delicate instrument, and imagining the elegant writing it once produced, I got a bottle of ink and tried to use it. I made a terrible mess of scratches and blots, lost my train of thought entirely, put the pen in my desk drawer, and, with relief, resumed writing on my desktop computer. This current, now familiar technology for writing seemed infinitely faster and easier, more flexible and productive.

This dip pen wasn’t to blame, though, for my failure to write with it. When he got down to business, Charles Dickens wrote quickly and fluently with dipped quills. And if I could bring him back to life, loaned him my laptop, and told him to produce and submit his manuscripts as Microsoft Word documents, he would be equally flummoxed. The first requirement for writing successfully with any technology–but not the last requirement–is leaning how to use it productively.

Now, young writers would feel nearly as crippled if they were forced to use the implement with which I produced my dissertation in the 1970s: a rickety manual typewriter, often while parked in the woods in my VW camper amid piles of books and articles. This way of writing now seems primitive and clumsy even to me, but being alone there with my own resources, disconnected from the rest of the world, seemed necessary at the time. Accustomed to moving and revising text with a few keystrokes, current dissertation writers would be frustrated by the implement itself–all of those key jams, typos, and ruined sheets of paper. More broadly, they would feel an enormous loss of flexibility, connection, and access to information. While sitting with their laptops in internet cafes, they are connected with whole libraries, massive databases, and global networks of scholars in their fields. They can cross-reference multiple documents and use software systems to produce statistical analyses, theoretical models of reactions in exploding stars, or multicolored, three-dimensional diagrams of complex molecules. The electronic documents they show me, often on flash drives plugged into my computer, include many images, elaborate graphs, or musical scores transported from other documents.

These are revolutionary changes in the way writing is produced, consumed, and taught, and to me, at least, they’re marvelous. I don’t miss my old typewriter or those piles of student papers and dissertation drafts I marked up with pens. I enjoy working with writers on screens, sharing a keyboard and playing around with sentences or comparing drafts. In these respects, writing, revising, and teaching writing seem much easier.

But dip pens, typewriters, and new information technologies have one common limitation: they can’t tell writers what to say. As a consequence, the most basic rhetorical challenges that writers face remain unchanged. Regardless of the implements and systems writers use, in the present moment, when all writing occurs, they must put language and thought together to communicate a compelling story to imagined readers who are not present. If they are students or scholars, this story must concern a significant question for which they can offer plausible answers or an interesting, reasoned argument with convincing evidence. For this purpose, they need to use a current writing technology with some proficiency, but in this crucial moment when writing occurs (or doesn’t), the ones they happen to be using won’t supply a voice: an invented version of themselves with which they can communicate with imagined readers, in strokes of a pen or a keyboard, across time and space.

This is why technological developments haven’t really made academic writing easier. In the decades since I submitted the typed copy of my dissertation, average PhD completion times have lengthened, especially in fields that require traditional dissertation monographs. Ways of producing writing have changed, along with academic job markets, standards for significance, and potential distractions from the task at hand. For the purpose of getting the task done, however, the central problems that young scholars face remain essentially the same.


(Keith Hjortshoj)

„Einer der Gründe, warum ich mich mit insistierender Beharrlichkeit in unsere Milchstraße hineinschleudern werde, ist: SCHREIBEN“ (Faraj Remmo, kurz vor dem Urknall)

2001 habe ich angefangen an der Universität Bielefeld zu studieren. Das ist nichts Ungewöhnliches. Aber für einen Tetraplegiker (Hals abwärts durch einen Unfall gelähmt) eine große Herausforderung, die mit vielen Schwierigkeiten, unter anderem beim Schreiben, verbunden ist. Meine Hausarbeiten habe ich, wenn es ging, (abgesprochen mit den ProfessorInnen und Dozentinnen) nicht in schriftlicher, sondern in mündlicher Variante absolviert. Was meistens auch gut gelungen ist.

Vor gut zwei Jahren, irgendwann im Jahr 2016, habe ich zum ersten Mal eine E-Mail mit der Mundmaus verfasst und sie an Andrea Frank, die Leiterin des Schreiblabors der Uni Bielefeld, geschickt. Der Inhalt meiner ersten E-Mail überhaupt lautete: „Liebe Andrea, das ist meine erste E-Mail, die ich selbst mit meinem Mund gerade geschrieben habe!!! Liebe Grüße Faraj”. Andrea hat nach ein paar Minuten geantwortet: „wow wie hast du das gemacht?“

Die Mundmaus ist ein Eingabegerät für meinen PC. Sie ist mit einer Spitze ausgestattet, mit der ich mit meinem Mund den Cursor auf dem Bildschirm bewegen kann. Um schreiben zu können, erscheint durch ein Programm (Klickmaster) eine Leiste auf dem Bildschirm, mit der ich die unterschiedlichen Funktionen der Maus aufrufen kann, z.B. rechte Maustaste oder linke Maustaste. Ein weiteres Programm stellt eine Bildschirmtastatur zur Verfügung, mit der ich einzelne Buchstaben oder vorgeschlagene Wörter anklicken kann, so dass ich am Ende mit meinem Mund Texte schreiben kann.

Somit kann ich endlich meine E-Mails privat öffnen und selber lesen, ich kann selber im Netz recherchieren und ich habe dadurch mehr Freiheit und Privatsphäre.


(Faraj Remmo)

Meine Geschichte des Schreibens, die Schulerfahrungen ausgeklammert, beginnt 1967. Meine Dissertation musste geschrieben werden. Und obwohl ich leidlich mit einer Schreibmaschine umgehen konnte, war es mir trotz Tipp-Ex unmöglich, meinen Text einigermaßen ordentlich zu Papier zu bringen, so dass ich professionelle Hilfe brauchte.

Zehn Jahre später begann ich literarische Texte zu schreiben. Erst waren es Gedichte und Kurzgeschichten, eine (inzwischen veröffentlichte) Novelle und schließlich auch ein Roman. Was hat sich seither für mich verändert? Eigentlich nicht viel. Ich schreibe immer noch von Hand und übertrage zeitnah das nur für mich lesbare Geschreibsel in eine für alle lesbare Schrift. Soweit, so gleich. Der Aufwand, der dann folgte, unterschied sich allerdings gewaltig von dem, der heute betrieben werden muss. Für einen Geschichtenschreiber, der keinen Verlag mit einem gut funktionierenden Lektorat im Hintergrund hat, war die Textüberarbeitung via Schreibmaschine mit gewaltigem Arbeitsaufwand verbunden. Tipp-Ex war da das geringste Übel. Ganze Passagen mussten immer wieder neu geschrieben werden. Das hieß schnibbeln und kleben, bis die einzelnen Blätter aus bis zu fünf Lagen bestanden. Was Wunder, dass so manche kleine Unschönheit auf Fortbestehen beharrte und sich durchsetzte, wenn der Eifer des Autors erlahmte. Dann kam der PC und mit ihm eine vorher kaum vorstellbare Arbeitserleichterung. Eure Frage, ob die Dateien auf die damals üblichen Disketten passten, kann ich mit ja beantworten. Selbst der 500-Seiten-Roman passte drauf. Ob man auf Word überhaupt Texte fertigschreiben kann, war eine weitere Frage. Man kann. Das ist wie beim Naschen. Man muss auch mal “nein” sagen können.


(Rudolf Schimke)

Wenn wir über technische (oder materielle) Aspekte unseres Schreibens schreiben, dann tun wir das überraschenderweise in der Regel mit einem Blick, der kaum Zukunft kennt. Die jetzige Situation erscheint (vermutlich ganz unfreiwillig) wie das Ende der Geschichte. Gründe dafür kann man sich viele denken, sie reichen vom Glauben, jetzt seien alle Probleme gelöst (oder die Hölle erreicht), über den Zeitpunkt, zu dem man schreibt (meist, wenn etwas gerade neu ist, d.h. in einer Phase der Irritation, Begeisterung oder Ablehnung) bis hin zur Frage, als wer man sich eigentlich (wem) zeigen will.

Ich glaube nicht, daß unsere Schreibwerkzeuge uns erlösen werden, und ich glaube auch nicht, daß sie uns in die Hölle führen werden. Was sie tun, ist, das, was Schreiben heißt, zu verschieben. Das fängt bei Fehlern an; ich habe gelesen (weiß aber leider nicht mehr, wo), daß früher mehr Orthographie- und Flüchtigkeitsfehler gemacht wurden, heute mehr Tippfehler. Geändert hat sich sicherlich auch die Produktionsmenge insgesamt – Studierende und Wissenschaftler_innen (um nur zwei Beispiele zu nehmen) schreiben heute mehr als früher, sicherlich in Zeichen, vielleicht auch in Zeit. Ich vermute auch, daß sich die Schreibstrategien verlagert haben. Mit Textverarbeitungssystemen scheint es mir einfacher geworden zu sein, Texte zu überarbeiten – verglichen etwa mit der Zeit noch meines Studiums und meiner Doktorarbeit (1986-1996). Ich erinnere mich daran, daß ich Platz über Zeilen brauchte, um durchzustreichen und den neuen Text über die Zeile zu schreiben; ich habe in meinen Kladden sogar nur die rechte Seite beschrieben, um die linke für Überarbeitungen zur Verfügung zu haben. Natürlich habe ich auch ausgeschnitten und geklebt, aber ab einer gewissen Menge von Änderungen mußte ich meinen Text noch einmal abschreiben, um weiter an ihm arbeiten zu können. Übrigens: Dieses Abschreiben war zwar zeitaufwendig, hat aber auch etwas bewirkt: Meine vielfach abgeschriebenen Texte kannte ich ziemlich gut, und ich bin inzwischen überzeugt, daß wir Abschreiben als Schreibtechnik im Moment eher unterschätzen.

Materialität unterstützt also bestimmte Schreibhandlungen oder kognitive Operationen und macht andere schwieriger. Mir beispielsweise fällt es leichter, auf ein paar an einem Tag in eine Kladde geschriebene Seiten stolz zu sein als auf eine mehrfach umgearbeitete Datei, der man die Überarbeitungen in der Regel nicht ansieht. (Ich weiß, man könnte, aber die Überarbeitungsmarkierungen von Textverarbeitungsprogrammen sind noch etwas unklug organisiert.) Ein anderes Beispiel: Mir gehört meine Handschrift mehr als jede auch noch so sorgfältig ausgewählte Druckschrift meines Textverarbeitungssystems, und deswegen kommen mir auch handschriftliche Texte mehr wie eigene vor. (Was übrigens Vor- und Nachteile hat.) Ich kritzele gerne auf Texten herum, die ich lese, und ich finde Dinge in gelesenen Texten am leichtesten über diese Markierungen und meine Erinnerungen an ihren Ort („das war doch links oben auf einer linken Seite!“). Deswegen habe ich mich an das Lesen in Dateien bis heute nicht wirklich gewöhnen können. Also: Die technische oder mediale Seite unseres Schreibens verschiebt, wie wir schreiben, welche Ansprüche wir haben, welche Probleme auftreten. Sie ändert es nicht vollkommen, aber sie macht z.B. bestimmte Strategien einfacher oder schwerer oder einfach wahrscheinlicher und weniger wahrscheinlich. Zudem kommen zu den leicht beobachtbaren Änderungen immer auch solche, die wir kaum bemerken (und die deswegen vielleicht umso wirksamer sind).

Was mich im Moment besonders beschäftigt, ist folgendes: Schreibenlernen ist ausgesprochen mühsam. Wir sind darauf nicht biologisch vorbereitet, wir lernen es in oft suboptimalen Kontexten, es benötigt viel Lebenszeit und – zumindest in den Anfängen des Lernens – formelle Lernsituationen, und es macht oft keinen Spaß. Das ist beim Sprechenlernen zum Beispiel anders; dies braucht zwar auch viel Zeit, wird aber in informellen Situationen, gewissermaßen beim Leben, gelernt. Ist es dann nicht naheliegend, sich zu fragen, ob angesichts unserer technischen Möglichkeiten überhaupt jede Person zwingend schreiben lernen muß?

Wie wäre es eigentlich, wenn man nicht mehr lesen, sondern hören würde und vor allem nicht mehr schreiben, sondern sprechen? Man bräuchte dazu eine einigermaßen ausgefuchste Software, die das Gesprochene in konventionelle Zeichen (welche auch immer) verwandelt. Oder konventionelle Zeichen in Gesprochenes. Im Prinzip gibt es das schon, aber noch nicht ganz in der Form, die ich mir vorstelle. Meist ist das Sprechen und Hören nur ein einmaliger Zwischenschritt auf dem Weg zum Schreiben (etwa beim Diktiergerät). Das eigentliche Schreiben ist für uns immer noch das Produzieren von Buchstaben. Aber man kann längere Texte doch auch produzieren, ohne je Buchstaben zu produzieren, wie wir vom Geschichtenerzählen wissen. Und vielleicht auch überarbeiten, ohne je Buchstaben zu überarbeiten. Für die vielen Menschen, die, auch noch als Erwachsene, Schwierigkeiten mit dem Schreiben und Lesen haben, könnte das eine große Erleichterung sein. Neben den Menschen, die ihre Texte auf der Ebene der Buchstaben bearbeiten, gäbe es dann andere, die sie auf der Ebene des gesprochenen Textes bearbeiten.

Wäre deren Schreiben etwas ganz anderes? Ich will nicht geradezu behaupten, daß alle Texte etwas Mündliches haben, aber ich vermute zumindest, daß die Varianz innerhalb mündlicher und schriftlicher Texte größer ist als die zwischen diesen beiden Gruppen. Deswegen würde das Schreiben vermutlich viele Ähnlichkeiten mit unserem jetzigen haben. Es ergäben sich auch Vorteile, denn ein auditiver Text macht manches leichter: Paraverbale Signale könnten direkt integriert werden, Aspekte wie Rhythmus, Reime und Pausen würden vermutlich bedeutender für die Ästhetik. Zitate könnten direkt als unterschiedliche Stimmen auftreten, und statt einer Schriftart würde man sich eine Stimme aussuchen können. Gesprochene Texte entfalten sich allerdings nur (oder fast nur) in der Zeit; das ist anders als bei einem Buchstabentext, den man zwar auch im Wesentlichen linear liest, bei dem man aber beispielsweise schon sieht, daß gleich ein Absatz oder ein Unterkapitel endet oder ein langes Zitat beginnt, d.h. die visuelle Präsenz von Texten erlaubt uns bestimmte Handlungen und Operationen. Gedruckte Texte können auch Bilder und Grafiken leichter integrieren, Fußnoten oder ganze Fußnotenapparate. Aber sollte nicht all das in der einen oder anderen Variante auch auditiv möglich sein? Schließlich hat die auditive Wahrnehmung auch eine recht große Bandbreite, und manches läßt sich wunderbar akustisch darstellen, etwa Graphen oder Funktionen. Eigentlich müßte es dafür also schon eine Reihe Lösungen geben, etwa für blinde Menschen, und es sollte noch viel mehr Möglichkeiten geben, wenn wir nur daran denken und uns damit beschäftigen würden. Und, ja, es würde Texte ändern. Aber eben nur verschieben.


(Ingrid Scharlau)

Während eines Portugalurlaubs sandte mir meine Sekretärin die Endfassung eines von mir mit Hilfe eines Experten von der FH Hildesheim erstellten Gesetzentwurfs zur „solidarischen Berufsbildungsfinanzierung“ zur Endkorrektur per Fax. Die rund einhundert Seiten Gesetzentwurf mit Begründung liefen dort auf eine Endlosrolle Faxpapier. Wir legten die 30m Monsterschlange im Garten aus, so dass ich mir Stück für Stück an den Liegestuhl heranziehen konnte. Das Bild von dieser Schlange, zwischen denen die damals dort noch zahlreichen Wiedehopfe und portugiesischen Elstern herumhüpften und im Rasen nach Würmern pickten ist mir unvergesslich.


(Klaus Luther)

Als ich Mitte der 70er Jahre als sog. Hilfsreferent ins Bundesministerium für Bildung und Wissenschaft kam, war ein Kernstück der ministeriellen Organisation ein Schreibbüro mit etwa dreißig im Schichtdienst tätigen Schreibdamen, eifersüchtig bewacht von deren Leiterin, über deren Schreibtisch sämtliche Schreibaufträge laufen mussten. Wenn man sich mir ihr gut stand, konnte man bei ihr um 18 Uhr noch Aufträge für den Spätdienst unterbringen und den fertigen Text – normalerweise handelte es sich um einen Vermerk für die Leitung oder für die Kommunikation mit anderen Referaten und Abteilungen im Haus - am nächsten Morgen abholen. Ein solcher Vermerk bestand aus dem auf Normalpapier geschriebenen Original für den im Kopf benannten Adressaten und bis zu vier Durchschlägen für das Ministerbüro, das Büro des parlamentarischen und des beamteten Staatssekretärs. Eine Kopie erhielt der Verfasser, der damit auf sehr störanfälligen, stromfressenden und Hitze abstrahlenden Kopiergeräten weitere Kopien anfertigen (lassen) konnte.

Allerdings ging es nicht immer so glatt: Fehler mussten von der jeweils mit dem Text befassten Schreibdame korrigiert, mit Tipp-Ex oder einem zeilenlangen Korrekturband überklebt, manche Seiten oder ganze Vermerke komplett neu geschrieben werden. In die farblich markierten Kopien für die Leitungsbüros – grün für Minister, lila (!) für den Parlamentarischen Staatssekretär, rot für den beamteten Staatssekretär – mussten die Korrekturen ebenfalls übertragen werden. Es dauerte manchmal mehrere Tage, bis ein einmal diktierter Text fertig war und „auf die Leiter“ geschickt werden konnte. Und dann war man niemals sicher, ob der Vermerk von irgendeinem Beteiligten oder Vorgesetzten – mitzeichnenden Referaten, dem eigenen Referatsleiter, Unterabteilungsleiter, Abteilungsleiter, Staatssekretär – ohne weitere Korrekturwünsche abgezeichnet oder zurückgeschickt wurde. Bevor der Vermerk dann endgültig „nach oben“ gehen konnte, musste man gegebenenfalls zur Rücksprache bei einem am Text Anstoß nehmenden Hierarchen vorsprechen. Und dann musste, wenn man sich in der Rücksprache nicht durchsetzen konnte, das Schreibbüro erneut ran – ein Albtraum für jeden jungen Mitarbeiter, jede junge Mitarbeiterin. Erfahrene “Ministranten” zeichneten sich dadurch aus, dass sie den „richtigen“ Aufbau eines Vermerks intus hatten: Ein Ministervermerk durfte in der Regel nicht länger als vier Seiten sein, notfalls mit einem Anhang versehen, zum Beispiel einem Redeentwurf. Schon auf Seite 1 musste der Verfahrens- oder Beschlussvorschlag – Kenntnisnahme, Billigung, Zeichnung eines Briefentwurfs oder „weitere Veranlassung“, was immer das sein mochte – stehen. Jeder Text musste natürlich analytisch und politisch „korrekt“ sowie sprachlich verständlich und rechtschreibsicher diktiert, korrigiert und fehlerfrei versandt werden.

All das gab es, als ich 1998 ins Ministerium zurückkam, nicht mehr: Die Leiterin des Schreibbüros war in Rente gegangen, nachdem sie über zwanzig Jahre lang ihre von uns despektierlich Hühnerhaufen genannten Mitarbeiterinnen ausgebildet, angeleitet und manchmal -getrieben sowie durchaus im Wortsinne behütet hatte, sich deren und unser aller Sorgen angehört, auf Betteleien und „ ... muss sofort erledigt werden, der Minister sitzt schon im Dienstwagen und wartet ...“ stoisch reagiert und ihre Nerven ruiniert hatte. Und doch war es schön, das Schreibbüro zu haben, besonders Weiberfastnacht war jedes Jahr der Höhepunkt, dann schwärmten die jungen Damen mit Maske und im Kostüm und mit einem Glas Sekt in der Hand aus, feiernde Sachbearbeiter und Referaten mal in einer anderen Verfassung zu erleben. Jedenfalls eine Eheschließung ist, soweit mir bekannt, zwischen einer Schreibdame und einem Mitarbeiter des „höheren“ Dienstes zustande gekommen. Das hatte was.

Und was ist aus den anderen Schreibdamen geworden? Sie wurden auf die etwa vierzig Referate des Ministeriums verteilt, schrieben für diese weiter Vermerke nach Diktat oder handschriftlichem Entwurf, bekamen aber auch zusätzliche Büroaufgaben zugewiesen. Neue Tätigkeitsbeschreibungen ermöglichten ihnen die Chance auf eine kleine Beförderung.

Ganz ähnlich hatte ich dies bereits Mitte der 80er Jahre bei der OECD in Paris erlebt, wo PC-ähnliche Schreibautomaten schon früher als in der Bundesrepublik eingesetzt wurden. Mit diesen Umorganisationen wohl aller Ministerien war faktisch eine stärkere Autonomie und eine Aufwertung der Referate, der Herzkammern des Ministeriums, verbunden. Der Preis war eine geringere Flexibilität der Gesamtorganisation. Die Vorteile überwogen aber, was sicher wesentlich auf die enormen Möglichkeiten des PCs zurückzuführen ist.

Allmählich setzte jedoch auch eine neue Bewegung ein: Referenten schreiben ihre Texte immer häufiger selbst in den PC und sparen sich so den Umweg über das Diktieren. Damit ist auch ein völlig neuer Schreibstil entstanden, das unmittelbare, ja spontane Texten, Umstellen, Korrigieren, Löschen und neu Schreiben ... Schlecht ist das nicht, man arbeitet sozusagen ganzheitlich. Manchem – wie mir – gefällt es so viel besser als das früher umständliche, Zeit raubende und Nerven ruinierende System Schreibbüro. Das lag übrigens in der zehnten Etage unseres Ministeriums, in dem unsere Büros vom siebten bis zum vierzehnten Stockwerk verteilt waren – also genau im Zentrum.


(Klaus Luther)

Ich bin eine schüchterne Twitter-Nutzerin, d.h. ich sage nie was, sondern folge nur vorsichtig anderen Twitter-Nutzenden, die Dinge schreiben oder Links zu Texten teilen, die ich interessant finden könnte. Ich finde auch vieles interessant, manches rätselhaft, etliches bewundernswert oder erfreulich. Vor diesem Hintergrund schaute ich gestern Nacht auf dem Weg ins Bett noch einmal nach neuen Twitter-Beiträgen und fand unter anderem einen Tweet der Kolleginnen im Schreibzentrum der Universität Bochum:

Screenshot eines Videos über den Alltag im Schreibzentrum

 

Man konnte darin ein Video anklicken, was ich dann auch tat. Was ich fand, kann man hier sehen:

Ein Video zum Geburtstag des Bielefelder Schreiblabors, das unsere jubiläumsbedingte Einladung, im Techniktagebuch etwas zum Thema Schreiben und Technik zu schreiben, an diesem Ort und in einer sehr schönen Verschachtelung aufgreift: Mit Videotechnik wird die Nutzung einer Brainstormingtechnik zur Exploration von Ideen zum Verhältnis von Schreiben und Technik aufgezeichnet. So ein schönes Geschenk! Wir danken! Und auf Twitter versteckt wie ein Osterei. Wir haben′s gefunden und tragen es sogleich ins Techniktagebuch.


(Stefanie Haacke)

So, wie vor 25 Jahren zu schreiben, linear wie mit Methode Brief, also oben anfangen auf einem Blatt Papier und dann bis zum Ende fortlaufend einen dem Anspruch genügenden Text zu verfassen, das habe ich fast verlernt. Schreibend “für die Wissenschaft” am Laptop, Tablet, Smartphone findet man mich täglich, von Kurznachricht bis Übersichtsartikel, in englisch, deutsch, gelegentlich französisch. Diktierfunktionen, Rechtschreibkorrektur, online verfügbare Übersetzungshilfen, Synonymwörterbücher und Grammatiken nutze ich gern. Doch im Vergleich bin ich nicht schneller als vor 25 Jahren, ich beschäftige mich meist nur mehr damit, Abschnitte zu verschieben, zu löschen, Sätze neu zu formulieren, Passagen einzuschieben, Übergänge anzupassen und alles nochmal anders zu formatieren. Hätte ich im “Füllerzeitalter” nicht ein bisschen länger über Struktur und Argumentation nachgedacht und große Korrekturen lieber vermieden?

Auch und gerade Naturwissenschaftler*innen müssen präzise und verständlich schreiben können, um etwa die Reproduzierbarkeit von Experimenten sicherzustellen oder über das eigene Gebiet hinaus mit Fachleuten und Öffentlichkeit zu kommunizieren. Wie kann die Lehre Wege dazu erschließen, gute wissenschaftliche Texte erstellen zu lernen? Am Anfang steht für mich das Herausarbeiten des Konzepts, der adäquaten Struktur. Das “Rückgrat” eines Textes möchte ich es nennen, das Gerüst, die Knochen also, die miteinander gut und beweglich verbunden sind, und an denen dann das “Fleisch” des Textes andockt. Dazu kann man hervorragend Methoden des Füllerzeitalters mit jetziger Technik und Online-Tools verbinden und gemeinsam zielführend einsetzen, so etwa wie in den dargestellten Beispielen, die in einer vom Schreiblabor unterstützten Veranstaltung entstanden sind.

Bild, auf dem schriftlich klassisches Handwerkzeug zum Schreiben aufgelistet wird

(Katharina Kohse-Höinghaus)

Sommer 1990. Ich schreibe die erste wesentliche Hausarbeit an der Uni Bielefeld. Die, die zeigen soll, ob ich das überhaupt kann. (Ich habe begründete Zweifel. Das Referat war nicht besonders.) Es geht um „Ehre in Augsburg“ im 16. Jahrhundert. Wochenlang habe ich recherchiert, gelesen, exzerpiert. Zuhause mit Bleistift auf Papier produziere ich Text, den ich im HRZ, dem Rechenzentrum der Uni, auf dem Uni-eigenen Computersystem EUMEL tippe und überarbeite. Abends wird jeder Rechner auf Null gesetzt. Bevor man nachhause geht, speichert man auf Floppy Disk.

Am Wochenende ist dort besonders ruhiges Arbeiten möglich. Ich komme gut voran, habe die Arbeit fast fertig. Doch meine Floppy Disk ist voll und die Läden sind zu. Wie soll ich jetzt abspeichern? Ein Mit-User sagt: „Musst Du einfach umformatieren.“ Ich folge seinem Rat, formatiere die Floppy-Disk um, speichere ab, gehe nachhause. Als ich am nächsten Tag die Datei öffne, steht da nur noch „Ehre Ehre Ehre Ehre Ehre Ehre Ehre Ehre Ehre Ehre Ehre Ehre“. Ich gehe schweigend aus dem HRZ, setze mich im Treppenhaus zwischen die Betonwände und weine.

Neben mir taucht das Gesicht einer Frau auf. „Was hast Du denn?“ „Es ist alles weg!“ „Dann komm mal mit.“ Hinter der Frau ein großer schnauzbärtiger Mann, der mich durch das Labyrinth des Rechenzentrums führt, schmale Gänge, links rum, rechts rum, links rum. Im Herzen ein Computer mit besonders empfindlichem Lesegerät. Meine Datei ist zu 95 % erhalten. Die Tränen haben mich gerettet.


(Friederike Neumann)

Ich habe sie gezählt. Es sind mindestens 17. Siebzehn Apps für mein tägliches Forschen und Schreiben: Literatur verwalten (1), Dateien verwalten (3), Ebooks verwalten und lesen (3), Transkribieren (1), Kodieren (1), Exzerpieren (1), Schreiben (2), Audiodateien anhören und bearbeiten (1), Zweiten Bildschirm nutzen (1), Diktieren (1) PDFs bearbeiten und annotieren (2). Dazu kommen die, die mir jetzt gerade nicht einfallen.

Natürlich verwende ich die Apps, weil sie mein Schreibleben superschnell, einfach und produktiv machen. Annotationen kann ich herauskopieren, Litereraturverzeichnisse importieren, Wortwolken erstellen, Texte über Geräte hinweg synchronisieren u.v.m. Großartig.

In letzter Zeit frage ich mich jedoch öfter, ob eventuell mit jeder weiteren App die Produktivität sinkt. Gibt es einen Grenznutzen? 17 Apps bedeuten 17 regelmässige Updates, Systemwechsel nicht mit eingerechnet. Oft sind sie inkompatibel, sie stürzen ab, sie wollen ständig Aufmerksamkeit. Die Hersteller schicken mir Emails mit aufregenden Neuerungen. Und wieviel meiner Gehirnkapazität geht eigentlich beim Auf- und Zuklicken, Suchen und Ärgern drauf? Hm. Vielleicht kriege ich das Problem mit einer App in den Griff? Das wäre toll.

 

(Swantje Lahm)

Die stärksten Veränderungen durch Technik liegen bei mir mehr als 25 Jahre zurück:

Ich habe 1960 mit dem Studium von Politikwissenschaft, Geschichte und Germanistik begonnen. Damals habe ich noch alles mit der Hand geschrieben und aus Büchern auf Karteikarten exzerpiert. Die Reinfassung der Arbeiten habe ich mit einer mechanischen Schreibmaschine getippt. Dafür habe ich mir das 10-Finger-System beigebracht. Tippfehler wurden mit Tipp-Ex korrigiert. Bis zu zehn Durchschläge waren möglich. (Ich habe noch einige Arbeiten aus dieser Zeit.)

Anfang der 70er Jahre bekam ich eine elektrische Schreibmaschine, mit der ich viel leichter und schneller tippen konnte. Weiterhin habe ich eine erste Fassung meiner Texte mit der Hand geschrieben und sie anschließend getippt. Wenn ich etwas am Text verändern wollte, habe ich die Seiten auseinandergeschnitten und Textpassagen eingeklebt. Die Rohfassung meiner Diss (1975) bestand aus langen Fahnen aneinander geklebter Passagen. Statt mit der Hand zu exzerpieren, konnte man nun aus Büchern Seiten kopieren. In Bibliotheken und Archiven bestand außerdem die Möglichkeit, Dokumente zu filmen, weshalb man ebenfalls weniger exzerpieren musste. Dies hatte Vor- und Nachteile: Man sparte enorm Zeit, machte sich das Kopierte aber längst nicht so intensiv zu eigen wie bei einem Exzerpt.

Die Belegexemplare meiner Diss habe ich mit Hilfe eines Kopierers produziert: die getippten Seiten verkleinert und so vervielfältigt, dass man sie zum Schluss in der Mitte durchschneiden und anschließend binden lassen konnte. Eine Denkaufgabe!

Wenn Texte vervielfältigt werden sollten, schrieb ich sie auf eine Wachsmatrize, von der Abzüge gemacht werden konnten.

Anfang der 80er Jahre ging ich dazu über, meine Texte zunächst in ein Diktiergerät zu sprechen und dann abzutippen. Das hat mir ganz wesentlich geholfen, meine Schreibhemmungen zu überwinden.

Mitte der 80er Jahre konnte ich einen Computer nutzen, um die Kursbescheinigungen für meine KollegiatInnen zu schreiben. Dafür schrieb mir mein Mann Werner Paarmann ein Computer-Programm auf eine Audio-Kassette. Die Texte schrieb ich auf einer Schreibmaschine, die an den Computer angeschlossen war. Der dazu gehörende Nadeldrucker konnte mehrere Durchschläge produzieren.

Bald hatte ich auch einen eigenen PC, der die Schreibmaschine ersetzte und ebenfalls an den Nadeldrucker angeschlossen werden konnte. Die Vorläufigkeit des Getippten, die Möglichkeit, jederzeit etwas zu verändern, zu verbessern, Textteile hin- und herzuschieben erleichterte mir die Textproduktion enorm. Während mir früher das Schreiben oft schwer fiel, macht es mir jetzt auch Spaß.

In den letzten 25 Jahren war für mich die E-Mail die wichtigste technische Neuerung. Sie ersetzt mir seither viele Briefe und Telefonate und beschleunigt viele Vorgänge. Allerdings wird mir die Erwartung, immer sogleich auf eingehende Nachrichten und Anfragen zu reagieren, oft auch zur Plage.


(Helga Jung-Paarmann)

Vor ca. 38 Jahren habe ich eine elektronische Schreibmaschine überlassen bekommen, weil meine damals studierende Tochter einen ersten portablen Rechner erhielt. Diese elektronische Schreibmaschine hat mein Schreiben schon sehr deutlich verändert. Vorher habe ich alle Entwürfe mit Tinte (oder Bleistift) auf Papier gebracht. Natürlich mit Änderungen, Streichungen und Ergänzungen, um dann beim Tippen in die mechanische Schreibmaschine festzustellen, dass andere Formulierungen denn doch besser gewesen wären. Oder um in den letzten Zeilen Tippfehler zu produzieren und die ganze Seite neu schreiben zu müssen. Das wurde mit der elektronischen Schreibmaschine schon sehr viel besser.

Vor 22 Jahren bekam ich dann meinen ersten PC. Das Schreiben wurde dadurch für mich revolutioniert: Erst einmal reinhacken und speichern, dann überarbeiten und speichern und dann die kleinen Hilfen – wie Passagen aus anderen Schriftstücken einfügen, automatische Rechtschreibprüfung, Einstellung der Seitenränder, Verwendung alter Schriftstücke – durch die Möglichkeit einer aktuellen Bearbeitung. Aber: Es ist nicht mehr schwierig, ellenlange Schriftstücke anzufertigen. Das verleitet manche Menschen dazu, über Seiten hinweg nicht wirklich notwendige Erläuterungen oder Ansichten auf das Papier zu bringen.

Ach ja, und das Schleppen von dicken Ordnern entfällt, denn USB-Sticks sind klein und leicht. Leider schleichen sich viele “denglische” Wörter in die Texte, wenn man nicht aufpasst.


(Barbara Schneider)

Ich gehöre zu einer Generation, die im Studium ihren ersten Computer hatte. Und damit war ich voll im Trend. Inzwischen bin ich paradoxerweise schon fast wieder modern, indem ich in Schreibworkshops die Teilnehmenden ausdrücklich ermutige und auffordere, das Schreiben mit der Hand als Strategie zum Ordnen der Gedanken, beim ersten Formulieren oder beim Überarbeiten zu nutzen. Außerdem verzichte ich selbst seit Jahren bewusst auf den Einsatz digitaler Medien während meiner Workshops.

Das bedeutet allerdings nicht, dass ich mich als technophob bezeichnen würde. Im Gegenteil. Möglich wird mein regelmäßiges Austoben mit Flipchart und Moderationsmaterial lediglich, weil ich Dienste wie wetransfer nutzen kann, über die ich den Teilnehmenden die Photodokumentation meiner und unserer gemeinsam erarbeiteten analogen „Tafelbilder“ zum Download verfügbar machen kann. Keineswegs alle Teilnehmenden nutzen das Angebot, innerhalb von einer Woche die Materialien herunterzuladen, aber dass die Möglichkeit dazu grundsätzlich besteht, ist ihnen wichtig.

Ein zweiter Bereich, in dem ich mich sehr gerne technisch unterstützen lasse, ist das Vereinbaren von Terminen. Mein Mittel der Wahl hier ist Doodle. Nicht nur für (Netzwerk-)Veranstaltungen mit vielen, über das ganze Land verteilten Kolleginnen und Kollegen, sondern auch für Einzelschreibcoachings. Ich kann Termine anbieten, Interessierte können sich eintragen, alles sehr einfach und unkompliziert.

So mag ich Technik am liebsten. Wenn sie so simpel anzuwenden ist und so leise, quasi im Hintergrund, einfach funktioniert, dass man sie gar nicht bemerkt. Denn dann kann ich mich umso besser auf das Eigentliche konzentrieren, das Schreiben (mit der Hand, oder am Rechner, wie bei diesem Text).


(Vera Leberecht)

Die Postleitzahlen waren kürzer, Briefe wurden noch handschriftlich verfasst und Telefonnummern konnte man nicht einfach im Internet nachsehen. Ins Gespräch gekommen sind wir aber trotzdem, dauerte eben alles länger.

Kopie eines Briefes an Andrea Frank

Sehr geehrte Frau Frank,
ich freue mich über Ihre Anfrage wg. wissenschaftlichem Schreiben. Seit einigen Jahren führe ich entsprechende Veranstaltungen durch und diese Arbeit wächst sich immer mehr aus, so daß ich auch gerne ein Schreiblabor aufbauen würde. Leider hat die FU kein Geld dafür. Umso mehr interessiert mich, was Sie machen. Vielleicht können wir einmal telefonieren? Leider habe ich keine Telefon-Nr. von Ihnen, sonst würde ich es gleich probieren. Da ich noch heute für den Rest der Woche verreise, werde ich auch erst nächste Woche dazu kommen, Schriftliches zusammenzustellen.
Mit freundlichen Grüßen
Ihr Otto Kruse

(Andrea Frank)

Im Juni 2018 bereite ich ein Schreibseminar für Wissenschaftler vor, in dem es um gutes Schreiben gehen soll. Weil ich nach einer guten Form suche, den Teilnehmenden zu ermöglichen, ihr eigenes, kontextangemessenes Verständnis von „gut“ herauszuarbeiten, lese ich erstmal ziemlich viel darüber, wie „gut“ in unterschiedlichen Kontexten definiert wird. Ich besorge eine Menge Bücher über gutes Schreiben, Stil, Rhetorik des Schreibens etc.

Eins davon ist ein Klassiker von William Zinsser: „On Writing Well“. Ich habe die achte Auflage von 2006. Das Buch ist zuerst erschienen im Jahr 1976, und im Vorwort äußert sich Zinsser zu den Veränderungen, die sich seitdem in Bezug auf das Schreiben vollzogen haben. „So wie sich Amerika in den letzten 30 Jahren beständig verändert hat, so auch mein Buch... “ (meine Übersetzung). Zinsser, der sich als „arbeitender Schreiber“ (working writer) versteht, der seine Erfahrungen mit dem Handwerk mit anderen teilt, beschreibt einige der Veränderungen der letzten 30 Jahre: gesellschaftliche, demographische, technologische Entwicklungen, die die Themen und Formen des Schreibens beeinflusst haben. Vor allem das Memoiren-Schreiben habe zugenommen. Ihm komme es manchmal so vor, als schriebe mittlerweile die Hälfte der US-amerikanischen Bevölkerung an Memoiren. Als er die erste Version seines Buchs schrieb, so Zinsser, hatte er „keine Ahnung von den elektronischen Wundern, die den Akt des Schreibens bald revolutionieren würden“. In den 80ern die elektronische Textverarbeitung, in den 90ern das Internet, E-Mail ... eine Revolution. Heute schreibe praktisch jeder.

Das sei, so Zinsser, eine gute Sache, aber leider habe keiner „all den Computer-Schreibern gesagt, dass die Essenz guten Schreibens Umschreiben ist“, und so seien mit der Verfügbarkeit elektronischer Textverarbeitung zwei Dinge gleichzeitig passiert: „Gute Schreiber wurden besser, und schlechte Schreiber wurden schlechter“. Die guten Schreiber nutzten die elektronischen Erleichterungen für extensives Überarbeiten ihrer Texte, die schlechten ließen sich von der Leichtigkeit des Schreibens erster Entwürfe und vom schönen Schriftbild am Bildschirm blenden und richteten mit schlecht geschriebenen E-Mails und Websites mehr Schaden als Nutzen an. Zinsser schließt sein Vorwort mit dem Gedanken, dass gutes Schreiben auch in Zukunft gutes altes hartes Denken erfordern wird.

Vielleicht gibt es aber noch eine dritte Möglichkeit  – jenseits von guten Schreibern, die mit Textverarbeitung noch besser, und schlechten Schreibern, die durch Textverarbeitung noch schlechter werden. Hier meine eigene erste Erfahrung: Als ich 1992 ein vernichtendes Feedback auf die erste Version meiner Magisterarbeit erhielt, an der ich schon lange und intensiv gearbeitet hatte, hat Word 5, das erste Textverarbeitungsprogramm meines Lebens, mich gerettet, weil es mir erlaubte, die Arbeit neu zu sortieren (neues Dokument, neue Textstruktur), ohne ganz neu mit dem Schreiben zu beginnen (Sätze und Absätze aus dem alten ins neue Dokument kopieren, neu arrangieren und einbetten). Die Textverarbeitung hat neues Denken aus dem alten Material heraus und mit dem alten Material ermöglicht. Umstrukturierung statt Neuschreiben. Zumindest für mich ist die Erinnerung an Word 5 eng verbunden mit der Erfahrung, Texte und Gedanken weiterentwickeln zu können und nicht im Durcheinander stecken bleiben zu müssen. Ich kann mir gut vorstellen, wie viel höher die Schwelle vor der Zeit digitaler Textverarbeitung gewesen sein muss, umfangreiche Texte zu schreiben und nicht in der Masse des Materials und der Ideen unterzugehen. So hat, um zu Zinssers Überlegungen zurückzukehren, die digitale Technik vielleicht das gute alte harte Denken demokratisiert.


(Stefanie Haacke)

Früher war vielleicht nicht alles besser, aber man sah auf jeden Fall häufiger als heute Jura-Studierende mit diesen dicken roten Büchern – dem Schönfelder – herumlaufen. Das Internet scheint auch dem Lesen von Gesetzen den Rang abgelaufen zu haben. Zumindest beobachtete ein Jura-Professor, dass Studierende den Umgang mit Gesetzestexten im Studium zu wenig üben, stattdessen Suchmaschinen nutzen. Im Examen haben sie dann große Probleme, weil digitale Inhalte nicht zugelassen sind und nur Gesetze als Hilfsmittel mitgebracht werden dürfen.

Der Jura-Prof hatte eine Idee:

„Die Arbeit mit dem Gesetz kann den Studierenden besser vermittelt werden, wenn der Dozent die Arbeit mit dem Gesetz vorführt, den Gesetzestext liest, blättert, vorliest, selbst auf Absätze und einzelne Wörter zeigt, die ihm wichtig erscheinen. Diese Aktionen sind für die Studierenden derzeit nicht erkennbar. Das kann durch den Einsatz eines Visualizers geändert werden. Dieses Gerät besteht im Wesentlichen aus einer auf einem Gerüst installierten vollautomatischen Kamera, die an einen Beamer angeschlossen werden kann. Der unter der Kamera auf die Präsentationsfläche gelegte Gegenstand wird fokussiert und auf das Beamerbild übertragen. Damit ist es möglich, Studierenden in Echtzeit – und mit mehr Sinnen als derzeit – die Arbeit mit dem Gesetzestext greifbar und begreifbar zu machen.“


(Andrea Frank)

In Zeiten in denen Nahrungsmittel-Intoleranzen zu einem hippen Lifestyle gehören und viele Menschen sich aber auch intolerant gegenüber Intoleranzen zeigen, fahre ich eine Bekannte zu einem Spezialisten für Unverträglichkeiten. Für sie steht ein dreistündiger Untersuchungsmarathon an. Als Vorbereitung auf diese Herausforderung durfte sie 16 Stunden lang nichts essen.

Es ist früh am Morgen. Sie fühlt sich elendig schwach, sitzt unruhig auf dem Beifahrersitz, unterzuckert und unglücklich. Wir sprechen über Toleranzen, Intoleranzen und die Bedeutung der Toleranz, der Intoleranz Einhalt zu gebieten.

Wir betreten die Praxis und gehen zum Empfang, wo die Empfangsdame ein Telefon am rechten Ohr hat, das sie mit der rechten Schulter fixiert, während sie mit der rechten Hand Notizen mit einem Bleistift auf einem Blatt Papier macht. Mit den Fingern der linken Hand tippt sie gleichzeitig etwas in ein Smartphone und blickt zugleich genervt auf ein zweites Telefon, das links von ihr in einer wild blinkenden Station klingelt. Mit ihrer Körpersprache erinnert sie mich an eine hinduistische Gottheit. Kali oder Durga.

Sie beendet das Telefonat, lässt den Stift galant fallen, legt den Hörer mit der rechten Hand auf, schiebt das Smartphone mit der linken Hand weg und greift mit selbiger nach dem zweiten Telefon, das sie zwischen ihrem linken Ohr und der Schulter einklemmt, und beginnt wieder zu sprechen. Mit der rechten Hand zieht sie ein Blatt Papier aus einem Fach, reicht es meiner Bekannten und sagt leise, immer noch telefonierend, „Bitte ausfüllen und dann wiederbringen.“

Wir drehen uns um, gehen die vier Schritte Richtung Wartezimmer und beobachten, wie sie mit der rechten Hand auf dem Touchpad eines Pads rumwischt, während sie nun mit links Notizen in einen Kalender macht. „Das ist eine Krake“, sage ich verdutzt. Meine Bekannte nickt, den Kopf genervt schüttelnd.

Wir setzen uns ins Wartezimmer und sie beginnt mit einem Kugelschreiber in Höchstgeschwindigkeit das Formular auszufüllen: Name, Vorname, Krankenversicherungsnummer, Geburtsdatum, Adresse, Telefonnummer, E-Mail-Adresse ...

Währenddessen beobachte ich einen älteren Herrn, der mir gegenüber sitzt und eine sedierende Ausstrahlung hat: er hat das rechte Bein über das linke geschlagen, während seine linke Hand auf dem rechten Knie liegt und er mit dem Zeigefinger der rechten Hand tippt. Seine Brille sitzt auf der Nasenspitze und er ist offensichtlich hochkonzentriert. Der rechte Zeigefinger tippt ca. alle 10 Sekunden auf das Smartphone, entfernt sich dann wieder knapp 30 cm davon, ehe er wieder gemächlich hinabgleitet. Tipp ... Tipp ... Tipp ... Es erscheint wie ein mechanisches Federsystem.

Mit dem ausgefüllten Formular geht meine Bekannte zum Empfang, reicht es der Empfangsdame, die verdutzt darauf schaut und sagt:

„Liebe Frau ..., wir hatten Ihnen doch mitgeteilt, dass wir die Tests heute nicht machen können, da der zuständige Herr Doktor außer Haus ist.“

„Mich hat aber niemand angerufen.“

„Nein, das nicht, aber wir haben Ihnen letzte Woche einen Brief geschickt.“

Wir fahren vom Parkplatz los und meine Bekannte ärgert sich über die unsinnige Zeit des Fastens. Man hätte doch einfach anrufen oder eine E-Mail schreiben können.

War denn auf Brieftauben je wirklich Verlass?


(Oliver M. Pawlak)

Das Leben an sich ist ja schon komplex. Manchmal ist es aber noch komplexer.

Heute ist Montag, der 25. Juni 2018 und ich organisiere die Auswanderung meiner Familie von Bielefeld in die Schweiz. Nach vielen Arbeitsjahren im Bielefelder Schreiblabor zieht uns ein fester Job dorthin. Eine Alltagstechnik, die mir gerade hilft, unser Leben in zwei Paralleluniversen unter einen Hut zu kriegen ist ein Kalender von BusyB (jetzt geht es mir wie meiner Kollegin und Freundin Stefanie Haacke aus dem Schreiblabor: ja, das fühlt sich an wie Werbung). Hier ist mal ein Foto:

Bild eines Terminkalenders

Also, die Alltagstechnik besteht für mich v.a. aus zweierlei:

  1. Listen machen und Unerledigtes mitnehmen – Pro Woche schreibe ich alles, was ich zu erledigen habe, rechts auf die Wochenkalenderseite (Tagestermine links zum jeweiligen Tag). Auch Sachen, die ich vielleicht diese Woche noch gar nicht schaffen kann. Alles, was am Ende der Woche noch nicht erledigt ist, schreibe ich am Montagmorgen, wenn ich die nächste Kalenderwochenseite aufschlage, wieder hin als Liste (wie Koffer verschicken, dass findet erst in 1 ½ Wochen statt, aber es ist mir letzte Woche eingefallen und jetzt schreibe ich es eben jede Woche hin, bis ich es erledigt habe). Meistens kommt dann noch was Neues dazu, im Laufe der Woche sowieso. Alles, was ich erledigt habe, streiche ich.
  2. Paralleluniversen abbilden – Wenn ich in meinem Kalender vorblättere, zum Beispiel in den August, dann stehen auf der einen Seite (links) die zukünftigen aktuellen Termine in der Schweiz:
Bild eines vollen Terminkalenders

Rechts habe ich eine Spalte „Bielefeld“ benannt: dort notiere ich alles, was dann gerade im Bielefelder Paralleluniversum an wichtigen Terminen ansteht. Das bildet eigentlich ganz schön ab, dass ich in dieser Zeit in zwei Welten lebe und denke ? in meiner eigenen präsenten Welt in der Schweiz und gedanklich viel in der Welt meiner Kinder, die sich dann gerade zwischen Bielefeld, Nordseeinseln, den Omas in Berlin und Mecklenburg befinden (Sommerferien, Schulkinder, Betreuungsproblem). Mein Mann wird das managen. Ich habe es auf dem Papier gegenwärtig.

Die Abbildung des (Un)Erledigten und des zukünftig Gleichzeitigen hilft mir in der Planung und gibt mir Sicherheit. Und Irgendwie fällt mir jetzt beim Schreiben auf, dass wir eigentlich oft irgendwie in Paralleluniversen unterwegs sind: gerade ist meine längste Freundin schwer erkrankt, sie wohnt nicht in Bielefeld, sondern in meinem Heimatort Berlin. Ich habe in den letzten Jahren nicht besonders viel an sie gedacht, aber gerade tue ich das jeden Tag. Dazu schreibe ich nichts in meinen Kalender. Da gibt es nichts zu organisieren. Ich kann nur versuchen, diese Präsenz, die meine Freundin in meinen Gedanken hat, immer wieder auch zu manifestieren. Indem ich sie anrufe, ihr eine E-Mail schreibe, einen Brief schicke. Aus meinem Universum in Bielefeld oder bald in der Schweiz in ihr Universum in Berlin. Paralleluniversen sind eben manchmal auch Mist.


(Svenja Kaduk)

Audiotranskription der Besprechung, die diesem Beitrag über handschriftliche Notizen auf dem iPad voranging. Ich kann in der Aufnahme nur meine eigene Stimme eindeutig zuordnen, deshalb sind alle anderen unmarkiert, es handelt sich aber um mehrere Personen.

Kathrin: Was ist das eigentlich für ein interessantes Riesending? Ist das ein iPad?

Ich deute auf ein Tablet im A4-Format.

 – Ja, das ist ein iPad Pro.

Kathrin: Darf ich's mal in die Hand nehmen? Ich hab das noch nie in der Größe gesehen.

 – Ja, klar. Ich find's halt super zum Lesen von Dokumenten ...

Ich halte das Tablet kurz in der Hand. Es ist nicht schwerer als das nur halb so große, aber eben auch ein paar Jahre ältere iPad meiner Mutter.

Kathrin: Wenn's einem nachts im Bett aufs Gesicht fällt, ist das keine Verbesserung gegenüber dicken Büchern.

 – Ich lese auch keine Romane damit, eher am Schreibtisch.

Kathrin: Aber man kann endlich PDFs vernünftig auf dem Tablet lesen.

 – Genau. Das ist die gleiche Qualität wie in DIN A4.

 – Und markieren und vollmalen, das find ich echt sehr gut.

Kathrin: Mit dem Stift? Ach, drum haben eure Stifte so einen Apple-Anschluss am Ende, das war mir gar nicht klar, das hab ich noch nie gesehen.

 – Ach, echt nicht? Ich hätte gedacht, das ist ...

Kathrin: Kann das bitte ins Techniktagebuch?

 – Das ist total wundervoll! Hier, schau dir das an ...

Kathrin: Ich hab mich schon gewundert, ich dachte vielleicht irgendwie ein Stift mit USB-Stick oder so was.

 – Also hier zum Beispiel hab ich jetzt gerade einen Text einer Kollegin kommentiert. Handschriftlich, also wie ich das sonst auf einem Ausdruck mache. Man kann es natürlich am Computer auch machen, aber so ist es natürlich sehr komfortabel, da hast du immer alles dabei. Hast du am Computer auch, aber der ist halt noch dicker ...

Kathrin: Ah, vielleicht gibt es doch ein Comeback der Handschrift.

 – Schau, hier. Das find ich jetzt in dieser Sache gut, dass man sowohl PDFs als auch Folien und so weiter, Fotos, reinladen kann, während man in der Veranstaltung ist. Das ist ein PDF, und da sind meine Notizen, und da hab ich die Folien fotografiert und kommentiert, hier ist wieder ein Stück PDF, und das ist echt super, da kann man super Notizdokumente machen.

Kathrin: Könnt ihr das bitte alle ins Techniktagebuch ...? Ich glaube, das steht da noch nicht.

 – Ich dachte, du müsstest das auf jeden Fall kennen.

Kathrin: Alle Uni-Veranstaltungen, bei denen ich bisher war, waren praktisch rein papiernotizenbasiert.

 – Bei uns ist es so ... für uns Leitungsfiguren sind das sogar dienstliche Dinger. Im Rektorat sitzen alle nur damit, es gibt kein Papier mehr.

Kathrin: Das ist aber wirklich ungewöhnlich. Die Veranstaltungen mit Leuten aus der Hochschulleitung, gerade die waren immer am papierfreudigsten von allen.

Erst beim Transkribieren merke ich, dass ich bei näherer Betrachtung gar nicht so viel über das Innenleben von Universitäten oder ihren Rektoraten weiß. So oft bin ich da auch wieder nicht, ich kann also kaum beurteilen, wie ungewöhnlich die Bielefelder Situation ist.

 – Es gibt im Rektorat kein Papier mehr, das rumgeschickt wird.

Kathrin: Schreibt das alles auf! Das ist total ungewöhnlich!

 – Da hast du die ganzen Informationen drin, also die Datenbanken und die ganze Literatur ...

 – Wir haben Zugriff auf unsere Ordner, die wir auf den Laufwerken an der Uni haben ...

 – Dann ist es für Präsentationen super ...

 – Das ist halt super, weil sonst war ich immer nur in meinem Büro und hab Unterlagen gesucht ...

Kathrin: Ihr lebt in einem merkwürdigen Paralleluniversum!

 – Wir dachten, das ist normal.

Kathrin: Nein, das ist überhaupt nicht normal! Also speziell an Unis nicht!

 – Wenn du bei uns in eine Rektoratssitzung kommst – früher kamen die immer mit solchen Bergen von Papier an, jetzt haben sie alle nur so ein Teil dabei.

Kathrin: Ich bin durch ein Wurmloch in der Zeit gefallen und zehn Jahre in der Zukunft wieder rausgekommen.

Der jüngste Mitarbeiter am Tisch: Ich aber auch.


(Kathrin Passig / das Team des Schreiblabors Bielefeld)

Wir haben heute um einen Tisch gesessen und darüber beraten, was wir anlässlich des 25jährigen Jubiläums des Bielefelder Schreiblabors machen wollen, und zwei von uns haben ihre Notizen auf dem iPad mit dem iPad-Stift gemacht, zwei andere hatten Laptops und einer einen echten Schreibblock, Papierkopien und echte Stifte. Und erst am Ende des Gesprächs ist klar geworden, dass Kathrin Passig die Stiftfunktionen des iPads und die damit verbundenen Notiermöglichkeiten noch nicht kannte. Sie meinte, das sei etwas fürs Techniktagebuch.

OK also: Im Kern stelle ich die App GoodNotes vor, mit der man das iPad wie ein Notizbuch nutzen kann, aber um das zu tun, muss ich auch das iPad insgesamt als Arbeitsinstrument ein bisschen beschreiben. Die Möglichkeit, darauf mit einem elektronischen Stift handschriftliche Notizen zu machen, ist einer der Hauptgründe gewesen, mir das ganz schön teure Apple-Tablet zu kaufen (nach langem Überlegen). Kolleginnen hatten es vor mir, und sie saßen immer in Sitzungen mit diesem Stift und schrieben damit auf das Display des iPads, als wäre es aus Papier. Einmal habe ich von einer Kollegin dann sogar per Mail ein pdf geschickt bekommen mit handschriftlichen Anmerkungen, und mir wurde klar, dass sie diese Anmerkungen mit diesem Stift auf dem iPad-Display gemacht hatte.

Bild eines Stifts

Weitere Erkundungen verstärkten den Eindruck, dass sich auf dem Gerät (und natürlich in den entsprechenden Clouds) sehr viele Dokumente speichern lassen, dass man auf dem Gerät auch Windows-kompatible Office-Programme laufen lassen und es entsprechend auch zur Textverarbeitung und für das Basteln und Vorführen von Powerpoint-Präsentationen etc. nutzen kann. Ganz zu schweigen von Onlinekalendern, Internetbrowser, Mailprogramm, Zeitungslese-Apps. etc. etc.

Screenshot des Startbildschirms von einem iPad

Am besten aber ist, dass man das iPad auf eine sich sehr natürlich anfühlende Weise wie ein Notizbuch nutzen kann, in dem man Dinge mit der Hand aufschreibt. Mit der App GoodNotes kann man so viele hübsch aussehende Notizhefte generieren, wie man will. Man kann sie benennen, man kann sie nach Kategorien ordnen, man kann sie vollschreiben (mit dem Stift, aber auch mit der Tastatur), sie haben unendlich viele Seiten ... Man kann reinmalen, man kann Fotos und ganze pdfs einbinden und auch diese wieder mit handschriftlichen Notizen und Verzierungen versehen, und hat so mit dem knapp 500 Gramm schweren Gerät und dem zwar teuren aber bislang robusten Stift im Prinzip alles was man braucht, um Mitschriften von Vorträgen, Besprechungen, Diskussionen anzufertigen und darauf zurückzugreifen, wann immer man will.

Screenshot einer Sammlung von Büchern
Screenshot einer Schreibapp auf dem iPad

Was hat das verändert für mich? Ich glaube es macht ein bisschen flexibler und irgendwie sicherer, in allen möglichen Situationen auf das zurückgreifen zu können, was ich notiert habe, aber die Tätigkeit des Notizenmachens hat sich – bis aufs Fotografieren und Fotos einbinden – eigentlich nicht grundlegend geändert. Auch in den 80ern, 90ern usw. habe ich genau auf dieselbe Weise Notizen gemacht wie heute. Der Unterschied: die Zettel, Hefte, Notizbücher, Ausdrucke etc., in und auf die ich damals meine Notizen gemacht habe, habe ich in Leitz-Ordner abgeheftet oder ins Regal gestellt, und sie sind dann je nach Papierqualität langsam vergilbt. Eine große Veränderung ist also, dass ich ganz viel Material und Platz spare durch die neue, digitale Form der Erzeugung von Notizen. Und dass alles auf einem Gerät passiert: handschriftlich notieren, Texte markieren, Word-Dokumente bearbeiten, Powerpoints basteln, Fotos machen (auch solche von Folien und Dokumenten), Termine eintragen, Mails schreiben, Videokonferenzen abhalten usw. usw. Manchmal stelle ich mir vor, dass die elektronischen Grundlagen dieser Art des Arbeitens irgendwann wieder weg sein könnten, und dass dann alles verschwindet und sich in Nichts auflöst, was ich da notiert, gekritzelt, datiert, benannt, formuliert, aufgenommen und gesammelt habe. Aber ein Haus voller Leitz-Ordner kann auch abbrennen. Und überhaupt. Was ist schon für die Ewigkeit.

Noch ein Nachsatz: Es ist seltsam, so über Geräte und Apps zu schreiben. Ist das Werbung? Diesen etwas unangenehmen Eindruck, eine Art Werbeträger zu sein, hatte ich schon einige Male in Gruppensituationen, wenn ich mein iPad und meinen Stift benutzt habe und dann irgendwann jemand auf mich zugekommen ist und gesagt hat: Zeig mal. Ist das gut?


(Stefanie Haacke)

Wir spielen Vater und Kind. Johannes (4) ist der Vater, ich (42) bin das Kind. Das Kind ist krank. Der Vater will Medizin kaufen. Routiniert greift er zu einem Holzbrettchen aus dem Kaufmannsladen, wischt – energisch! – mit dem Zeigefinger nach links. Tippt. “Medizin get (k) auft”. Und das mit dem k wird auch noch klappen.


(Swantje Lahm)


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